TIBOR  DÖMÖTÖRFI 
            Diktatur und soziale Anomie in Ungarn
              
            Vorwort 
              1. Einleitung 
  1.1 Fragestellung 
  1.2 Theoretische Grundlagen 
  1.3 Literaturstand 
  1.4 Forschungsfragen und methodische  Grundlagen 
2. Die Institutionalisierung  der kommunistischen Diktatur 
  2.1 Das traumatisierte Land und die  stalinistische Wende 
  2.2 Gleichschaltung der Gesellschaft und der  gesellschaftlichen Institutionen 
  2.3 Bewußte Zerschlagung der traditionellen  Werte und Normen 
3. Offizielle Werte versus  „real existierende“ Verhaltensmuster in der Gesellschaft 
  3.1 Solidarität und Gemeinsinn als ideologische  Fassade der Diktatur 
  3.2 Interferenzen zwischen Etatismus und  Entsolidarisierung 
  3.3 Fatalismus, Rückzug ins Private und  rücksichtslose „sozialistische Individualisierung“ 
   3.4 Tendenzen der  Selbstaggression und Selbstzerstörung 
              (Selbstmord, Alkoholismus, mentale  Krankheiten) 
              4. Der staatssozialistische  Weg der Modernisierung 
                4.1 Der beschleunigte Modernisierungsprozess  sowjetischen Musters in Ungarn 
              und  einige Besonderheiten 
                4.2 Modernisierung und sozialer Wandel 
                4.3 Allgemeine Modernisierungseffekte  hinsichtlich der Auflockerung 
              der  traditionellen sozialen Bindungen 
              5. Gesellschaftliche  Abwehrreaktionen 
                5.1 Die Darstellung und Erforschung der  „Störungen gesellschaftlicher Anpassung“ 
              als  soziale Bewegung 
                5.2 Zivilgesellschaftliche Initiativen 
                5.3 Kirchliche Basisgemeinden und  Erneuerungsbewegungen 
              6. Der  Demokratisierungsprozeß nach 1989 
                6.1 Die demokratisch-marktwirtschaftliche  Transformation und ihre 
              sozialen Kosten 
                6.2 Kontinuitäten und Brüche in den  gesellschaftlichen Werte- und Regelsystemen  
                6.3 Wandel in den Strukturen der sozialen  Integration 
              7. Schlußfolgerungen 
              Exkurs: „Káposztásmegyer“ –  Das Leben in einer religiösen Solidargemeinschaft  
              Anhang: 
                - Zeittafel zur Geschichte Ungarns  (1945-1995)- Biographie: János Kádár 
                - Verzeichnis der Tabellen 
                - Verzeichnis der Abkürzungen-  Literaturverzeichnis 
                - Periodika 
              
            7. 
              Schlußfolgerungen 
            Das kommunistische Machtsystem setzte die  Menschen unter Modernisierungsstreß und bewirkte gleichzeitig die weitgehende  Demolierung von überkommenen integrativen Werten und Normen. Die Folgen waren  an der Verbreitung von selbstzerstörerischen und devianten Verhaltensformen zu  erkennen. Der Zustand der anomischen Desorientierung entsprach zudem den  resignativen kulturellen Traditionen des Landes. 
              Als das Regime zum  Zweck der Selbstlegitimierung den Weg der beschränkten individuellen Freiheiten  eröffnete, entfesselte es damit Kräfte des anomischen Egoismus auf der  gesellschaftlichen Ebene. Der Verstärkung von verzerrten Individualisierungs-  und Egoismus-Attitüden konnten nur wenige integrierende soziale Kräfte  entgegentreten, weil diese größtenteils von der Diktatur eliminiert oder  gelähmt wurden. Die Ordnungsstrukturen der Diktatur konnten allerdings nur  zeitweilig und partiell die zunehmende Atomisierung der Gesellschaft  kaschieren. 
            Bereits kurz nach  der kommunistischen Machtübernahme traten in der ungarischen Gesellschaft  Tendenzen der Normenaushöhlung und Normenschwächung auf, die mit der von außen  herbeigeführten und allmählich erfolgreichen Auflösung des  religiös-bürgerlichen Wertehintergrundes der gesellschaftlichen Mehrheit  zusammenhingen. Elemente struktureller Heterogenität, also klare  Widersprüchlichkeiten in den Werten und Normen existierten allerdings trotz  ideologischer Anstrengungen in der neuen Gesellschaftsordnung weiter. Das  offiziell propagierte und oktroyierte Werte- und Normensystem des Kommunismus  wies zudem im Laufe der Zeit immer offensichtlicher anachronistische Züge auf,  der ideologische Konservativismus als Leitprinzip diente ab den sechziger  Jahren aus. Die wachsende Inkonsistenz und Relativierung der ideologisch  bedingten Grundwerte wirkte weit über die politische Sphäre hinaus. Als Folge  verbreitete sich Verhaltensunsicherheit in der Gesellschaft, vor allem wegen  des Fehlens an eindeutigen und nachvollziehbaren Normen, wonach der einzelne im  öffentlichen Leben beurteilt wurde. Besonders verwirrend war in diesem  Zusammenhang die offizielle Propagierung von kollektiv-solidarischen  Verhaltensformen und die gleichzeitige Bestrafung derjenigen, die „ohne  Genehmigung“ nach diesen Normen handelten. 
              Ungarn wurde infolge  der forcierten sozialistischen Modernisierung sowjetischen Musters aus einer in  vieler Hinsicht unterentwickelten Agrargesellschaft der Vorkriegszeit zu einer  partiell modernen Industriegesellschaft mit starken Verzerrungen in der  sozio-ökonomischen Entwicklung. Im Bereich des gesellschaftlichen Werte- und  Normensystems wies die sozialistische Modernisierung ebenfalls deutliche  Widersprüche auf. Neben den intendierten, desintegrativ wirkenden Folgen der  Umbruchprozesse überlebten traditionelle Strukturen die drastische Periode des  sozialen Wandels, wobei neuartige, modernisierungsbedingte, aber nicht  systemkonforme Elemente ebenfalls entstanden. Im Vergleich mit den entwickelten  westlichen Industriegesellschaften bedeutete die systembedingte Modernisierung  für die ungarische Gesellschaft einen größeren „Schock“, weil die Entwicklung  forciert und nicht-organisch war. Im Vergleich mit anderen osteuropäischen  Ländern, die einen ähnlichen Weg der sozialistischen Modernisierung  eingeschlagen hatten, waren die unmittelbaren Folgen nicht gravierender. 
              Individualisierungsprozesse,  die in modernen Gesellschaften die Entfaltung selbständiger und  verantwortungsvoller, gleichzeitig sozial integrierter Persönlichkeiten mit  Fähigkeit zu reflexivem Handeln ermöglichen, wurden in dem realsozialistischen  System des Kádárismus eigenartig deformiert. Es entstanden destruktive Modelle  der Individualität, die den modernen Formen gesellschaftlicher Solidarität  entgegenwirkten. Unter dem Kádár-Regime konnten zwar die Menschen ihre „kleinen  Freiheiten“ individualistisch wahrnehmen. Sich zusammenzuschließen, sich als  gegenseitig verantwortliche Mitglieder einer Gesellschaft zu erleben, durften  sie aber trotz ideologischer Parolen nicht. Die Institutionalisierung von  tragenden gemeinsamen Werten und Normen blieb in der Wirklichkeit aus. Der in  diesem Kontext feststellbare Mentalitätswandel wurde – aus den Gegebenheiten  der Diktatur herausgehend – in eine klar umrissene Richtung kanalisiert: es  entstand ein nur an sich (bzw. an sein primäres soziales Umfeld) denkender,  aber gleichzeitig auf der staatlichen (paternalistischen) Versorgung  basierender Menschentyp, eine Art „homo sovieticus“, der gleichzeitig als  sozial-infantil und als selbstzerstörerisch-egoistisch bezeichnet werden kann. 
              Die verschiedenen  Erscheinungsformen des Privatismus und der sozialen Atomisierung stellten die  dominierenden Verhaltensformen im späten Kádárismus dar. Sie sind direkt oder  indirekt Symptome und gleichzeitig Ursachen mangelnder gesellschaftlicher  Solidarität und Integration, die den ungarischen „Sonderweg“ in  gesellschaftlicher Hinsicht typisierten. Hinter den extrem hohen Zahlen der  Selbstmorde, des Alkoholismus und der mentalen Krankheiten in dieser Epoche  kann die zum Teil modernisierungsbedingte, im wesentlichen aber durch die  kommunistische Gesellschaftspolitik ausgelöste Anomie gesehen werden, die sich  in Formen der Desintegration, der Lockerung der sozialen Bindungen und der  Infragestellung elementarer gesellschaftlicher Verhaltensregeln manifestierte. 
              Die massiven Abweichungen  von dem Idealbild einer „sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft“ in der  Wirklichkeit und die massiven Funktionsstörungen in dem sozialen Gefüge  erreichten im Spätkádárismus eine Dimension, die unaufhaltsam intensive  Reaktionen publizistischer, künstlerischer und wissenschaftlicher Form  auslöste. Diese Reaktion wurde durch ein wahrnehmbares Publikuminteresse  stimuliert. Die Akteure und Mitbeteiligten waren dabei aufgrund ihrer  gemeinsamen systemkritischen Ansätze miteinander solidarisch verbunden und  agierten als soziale Bewegung. Zahlreiche Dissidenten und intellektuelle  Vertreter der zivilgesellschaftlichen Ideen in Ungarn betonten gleichzeitig,  daß Werte wie Solidarität, Vertrauen, ehrliche Kommunikation zwischen den  Menschen als unabdingbare Bestandteile einer „civil society“ anzusehen seien.  Nach ihrem Selbstverständnis reagierten sie damit adäquat auf die Verhältnisse  im Spätkádárismus. Die zu dieser Zeit neu aufgetretenen religiösen Bewegungen  kümmerten sich weniger um traditionelle Frömmigkeit, sondern sie legten Wert  auf die Bildung von „neuen Menschen“, die durch ihre internalisierten Werte und  Normen einen bewußt sozialintegrativen Idealtypus verkörpern. 
            Es stellt sich  letztlich die Frage, ob seitens der kádáristischen Diktatur intendiert war, daß  das gesellschaftliche Werte- und Normensystem in einen desolaten Zustand  geriet. Einerseits scheint es so, daß die schleichende, latente Erosion der  Werte und Normen durch Widersprüche ein Phänomen ist, das nur indirekt  herbeigeführt werden kann. Auf der anderen Seite war es für die Diktatur  offensichtlich von Vorteil, daß besonders die eigenständige, selbstregulierende  (immanente) Funktionsfähigkeit des gesellschaftlichen Normensystems untergraben  wurde. 
              Die Verhinderung der  Existenz einer grundsätzlich eindeutigen Normenwelt entsprach der zynischen  Politik einer Diktatur, die die Atomisierung der Gesellschaft für wünschenswert  hält, um systemunabhängige oder oppositionelle Solidarisierung in der  Bevölkerung leichter unterbinden zu können. In einer gleichgeschalteten  Gesellschaft, wo zivilgesellschaftliche Initiativen, bürgerlicher Zusammenhalt  und gegenseitige Solidarität lange ausgeklammert oder erschwert wurden, war es  eben einfacher, den Zustand der allgemeinen Desorientierung aufrechtzuerhalten.  Da die „Spielregeln“ in der Diktatur oft unüberschaubar erschienen, wurde das  einfache Gesellschaftsmitglied einem Anpassungsdruck ausgesetzt, der bei ihm  das Gefühl des Ausgeliefertseins weiter verstärkte. In dieser Situation waren  die Optionen, die von dem realsozialistischen System als Handlungsspielräume  dargeboten wurden, verständlicherweise leichter zu akzeptieren. 
            Einiges spricht  dafür, daß die soziale Anomie trotz der Umstrukturierung der sozialen  Verhältnisse in der Demokratisierungsphase ein dauerhaftes Problem bleibt. 
              Das Verschwinden des  repressiven Drucks der Diktatur ist jedoch nicht irrelevant. Der anomische  Streß läßt offensichtlich nach, ein Teil davon löst sich allmählich in der  pluralistischen Vielfalt der neuen Lebensstrukturoptionen auf. Die Symptome der  Unzufriedenheit und Besorgnis angesichts der Transformation der  Lebensbedingungen sind unseres Erachtens nur vorläufige und weniger relevante  Erscheinungen. 
              Der anomische  Individualismus gewinnt auf der anderen Seite entscheidend an Eigendynamik  unter den Verhältnissen der freiheitlichen Demokratie. Zügelloser Egoismus wird  der wichtigste direkte Indikator für soziale Anomie. 
              Diese doppelte  Tendenz scheint auch in bezug auf deviantes Verhalten zum Vorschein zu kommen.  Selbstaggression und Fremdaggression stehen jetzt im Vergleich zu Zeiten der  Diktatur in einem umgekehrten Verhältnis. 
            In Hinblick auf die  Zukunft erlauben wir uns schließlich einige hypothetische Gedanken über die  gesellschaftliche Entwicklung Ungarns aus anomietheoretischer Hinsicht.  
              Die Überwindung der  Anomie im Sinne von Durkheim wäre durch die Suche nach einer neuen  gesellschaftlichen Integration möglich, wenn die gut funktionierende normative  Ordnung der Gesellschaft organisch hergestellt werden könnte. Gegenwärtig sind  in der ungarischen Gesellschaft noch die für den Kádárismus typischen  normativen Mischlagen dominierend. 
              Die Stärkung der  Bindungen der sozialen Integration erfordert wahrscheinlich die Verdichtung des  Netzes gesellschaftlicher Normenträger, die Modellfunktion erfüllen und dadurch  einen qualitativen Umschwung in den Werte- und Normensysteme auf der  gesamtgesellschaftlichen Ebene ermöglichen könnten. Ein positives Signal dafür,  daß die normativen Grundlagen der Gesellschaft nicht irreparabel beschädigt  sind, beweisen die nicht wenigen Anzeichen für Wertekontinuität trotz  Normenkrise. 
            Die Frage des  gegenwärtigen sozialen Wandels ist also auch, ob letztlich die zentrifugalen  Kräfte der sozialen Anomie oder die integrierenden Werte und konsequenten  Normen einer modernen bürgerlichen Demokratie die ungarische Gesellschaft  dominieren werden.  
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